China und Indien verfehlen beide die Führung des Globalen Südens

October 3, 2023

Der G-20-Gipfel in Delhi hätte zum bedeutungsvollen Schritt Indiens im Aufstieg zu einer globalen Grossmacht werden sollen. Doch das nüchterne, rein geostrategische Urteil fällt anders aus.

Die Durchführung des G-20-Gipfels vom 9. und 10.September 2023 in New Delhi soll dem Vorsitzenden Narendra Modi triumphal gelungen sein, wenn man die Weltpresse liest. Die Hymnen steigern sich für Modi bis zum Prädikat des neuen Wortführers des Globalen Südens, für die institutionell lockere G-20 fast bis zur Anerkennung als neue Taktgeberin der globalen Politik.

Es war seit der Übernahme des G-20-Vorsitzes durch Indien abzusehen, und wurde auch entsprechend angekündigt, dass der G-20-Gipfel, zumindest kommunikativ, einen bedeutungsvollen Schritt in Indiens Aufstieg zu einer globalen Grossmacht darstellen würde. Kommunikativ, und mit viel diplomatischem Glanz, ist dies Modi auch tatsächlich gelungen.

Das nüchterne, rein geostrategische Urteil fällt allerdings anders aus.

Indien stellt sich China nur partiell entgegen

Dem scheinbaren Grossmachtprofil Indiens fehlt es für eine echte Konkurrenzierung des anderen asiatischen Giganten China nach wie vor am unverzichtbaren wirtschaftlichen Unterbau. Die Wachstumszahlen täuschen mehr Wachstum vor, als tatsächlich generiert wird. Indiens Volkswirtschaft stellt, mit der grössten Bevölkerung aller Staaten, einen Fünftel Chinas dar.

Zwar hat Indien in jüngster Zeit wesentliche Fortschritte in der punktuellen Zurückdrängung neuer chinesischer Einflusspositionen am und im Indischen Ozean, beispielsweise in Bangladesh und auf den Malediven, erzielt, wie auch die USA sich daran gemacht haben, Chinas strategische Vorstösse in den südlichen Pazifik, z.B. Fidschi, rückgängig zu machen.

Dazu kommt die zunehmende Entschlossenheit einzelner ASEAN-Länder, besonders um das Südchinesische Meer, namentlich Vietnam und die Philippinen, illegitimen chinesischen Souveränitätsanmassungen endlich entgegenzutreten. Die Bilanz ist für die „Buchhalter“ von Chinas Expansion in Südasien und Südostasien also zunehmend eingetrübt.

China gelingt Coup

An anderen Fronten des geostrategischen Wettbewerbs hat China jedoch gepunktet. Am kürzlichen BRICS-Gipfel in Johannesburg, dem Treffen der fünf wichtigsten sog. Schwellenländer („Emerging Markets“) gelang den Chinesen mit dem Beschluss zur Aufnahme von sechs neuen Mitgliedern – in einer geografischen Logik: Iran, Saudi Arabien, Vereinigte Arabische Emirate (UAE), Ägypten, Äthiopien und Argentinien – ein strategischer „Coup“. Denn die Vergrösserung der BRICS-Gruppe dient in erster Linie den Interessen Chinas.

Siehe beispielsweise die dabei entstehende für Chinas Belt-and-Road-Initiative (BRI) bedeutungsvolle neue Landbrücke aus Zentralasien über den Nahen Osten nach Afrika. Der Coup nährt ausserdem die Zielsetzung, der global nach wie vor dominanten G-7 der führenden Industrienationen als Gruppe geopolitisch entgegenzutreten.

Der Anspruch, im Format einer erweiterten BRICS-Gruppe damit zum Sprecher des globalen Südens aufzusteigen, wird unweigerlich an China fallen und stellt für Indiens gleichgerichtete Ambitionen einen Rückschlag dar.

China untergräbt Bedeutung der G-20

Dieses ernüchternde Resultat von Johannesburg dürfte für Modi denn auch der Grund und ein wesentlicher Antrieb gewesen sein, aus dem G-20-Gipfel etwas „Grosses“ für sein Land zu machen. Das ist ihm aber, trotz dem Glanz und Glimmer an der Oberfläche, nicht gelungen.

Vorerst hat er am Treffen der zwanzig wichtigsten Staatschefs der Welt in New Delhi die Abwesenheit von Xi-Jinping schlucken müssen. Dieser hat damit ungesagt zum Ausdruck gebracht, dass ein Treffen aller Mächtigen über alle Lager und Interessensgruppen hinweg nicht viel wirkungsvoller sein kann als die heutige UNO-Generalversammlung und der durch Russlands Ukrainekrieg blockierte Sicherheitsrat; Xi konnte es sich leisten, den latenten Bedeutungsverlust der G-20 mit seiner Abwesenheit zu verstärken.

In der Folge wird auch Indien mit der zunehmenden Komplizierung des globalen Wettbewerbs zu Recht kommen müssen. Es geht nicht mehr um einen relativ eindimensionalen Wettbewerb zwischen einem „entwickelten“ Norden und einem „unterschiedlich entwickelten Süden“.

Der aktuelle globale Wettbewerb ist zu einem komplexen Prozess ausgeartet, in dem die freiheitliche liberale Weltordnung von verschiedenen Seiten herausgefordert wird. So wenig jedoch wie die G-20 in der Lage wäre, das bestehende durch ein neues Modell zu ersetzen, so wenig wird auch eine von China geführte erweiterte BRICS-Gruppe die divergierenden strategischen Interessen und Ambitionen seiner Mitglieder auf ein gemeinsames Ziel einschwören können. Unterschiedliche anti-westliche Intentionen reichen nicht aus.

Diverse Trends zur Bildung neuer Machtgruppierungen und Allianzen in der Weltpolitik machen es sowohl China als auch Indien schwer, sich zum Führer oder Sprecher des Globalen Südens aufzuschwingen.

Picutre: MEAphotogallery