Die Arktis – ein neuer geostrategischer Fokus

April 9, 2023

Vom Ukrainekrieg aus gehen Schockwellen um die Welt. Russlands Aussenminister Lawrow definiert in diesen Tagen eine neue Weltordnung als ausdrückliche Zielsetzung eines Krieges, der anfänglich „nur“ die militärische Unterwerfung des Nachbarn Ukraine zum Ziele hatte. Der bündnisähnliche Zusammenschluss mit China hat diesen Nachbarn, soweit erkennbar, noch nicht zum Kriegseintritt veranlasst. Aber er weist auf eine Koalition hin, die als Block der zwei grössten autokratischen Mächte durchaus gewillt ist, die global dominierende liberale Weltordnung und damit die Führungsrolle der USA herauszufordern.

Eine unmittelbare geostrategische Auswirkung der Allianz erreicht nun auch die Arktis. Die Arktisregion, bisher vom globalen Wettlauf um Macht und Einfluss ausgeklammert, wird nun von Russland und China mit bedeutenden Konsequenzen für die Weltordnung ins Visier genommen. Mit der Klimaerwärmung und dem damit einhergehenden Schmelzen der Eisdecke werden immer grössere Teile des Arktischen Ozeans für die Schifffahrt frei. Für eine kommerziell interessante Durchquerung bleibt die sog. Nordwestpassage durch die kanadische Inselwelt schwierig. Die der russischen Nordküste entlang verlaufende Nordostpassage hingegen kann immer besser für eine kommerzielle Schifffahrt genutzt werden. Sie verbindet den Nordatlantik mit dem Nordpazifik. Global bedeutsam ist diese Route für den Handel zwischen Ostasien und Europa bzw. Nordamerika, weil sie, je nach Ausgangs- und Bestimmungshafen, den sonst üblichen Weg durch die Strasse von Malakka und den Suezkanal wesentlich verkürzt und damit auch verbilligt. Besonders Chinas Aussenhandel ist deshalb an einer Teilverlegung seiner Handelsrouten in die Arktis interessiert.

Die eigentliche arktische Supermacht ist Russland. Es hat seine strategischen, d.h. nuklearen Waffen in der Region gelagert und unterhält hier permanent zwei Drittel seiner Seestreitkräfte. Ausserdem kann Russland die entlang seiner Nordküste onshore und offshore liegenden Öl- und Gasfelder ausbeuten und die Energieträger zu Land und auf Schiffen durch die Nordostpassage, heute auch „North Sea Route“ genannt, nach Europa transportieren. Angesichts langfristig sinkender Ölpreise werden die Gasvorkommen zunehmend bedeutsam. Zwei Grossprojekte sollten als Nord Stream 1 und 2 das Gas durch neue Pipelines nach Westen führen. Der Ukrainekrieg hat diese Expansionspläne gestoppt. Die auf der zentral- arktischen Halbinsel Jamal im Bau befindlichen Infrastrukturen dienen der Herstellung und Verfrachtung von Flüssiggas – liquefied natural gas, LNG. Auf Schiffen kann nun LNG sowohl nach Europa als auch nach Ostasien, insbesondere China, geliefert werden. China hat sich in den arktischen russischen LNG-Anlagen als Investor eingekauft und ist damit, ohne geografisch an die Arktis anzugrenzen, zu einem Teilhaber an der arktischen Region geworden. Damit hat Xi Jinping recht bekommen, der schon 2017 erklärte, dass die nördliche Schifffahrtsroute als „Ice Silk Road“ Teil der bald globalen „Belt-and-Road-Initiative“ werden würde.

Anders als in der unlösbar komplexen Konfliktregion des Mittleren Ostens und in Zentralasien, wo sich Russland und China langfristig in einem Wettbewerb um Macht und Einfluss befinden, bietet sich die Arktis als eine geostrategische Region für eine beinahe perfekte Komplementarität Russlands und Chinas an. Fast unangefochten beherrscht oder kontrolliert Russland entlang seiner über zehntausend Kilometer langen Nordgrenze die Hälfte des arktischen Ozeans. Zusammen mit dem Energiehunger und den finanziellen Mitteln Chinas eröffnen sich der enger gewordenen Partnerschaft der zwei Grossmächte neue Möglichkeiten, einerseits die Bodenschätze der Region unbeeinträchtigt auszubeuten und andererseits einen Schifffahrtsweg zu nutzen, der vor allem der chinesischen wirtschaftlichen Expansion im Welthandel eine neue geostrategische Dimension eröffnet. Der Verwirklichung dieser neuen Möglichkeiten steht fast nichts im Weg.

Der Arktische Rat, der seit einem Vierteljahrhundert die Kooperation zwischen seinen acht Anrainer-Mitgliedstaaten (sieben westliche plus Russland) sowie mit einem Dutzend weiterer Staaten mit Beobachterstatus und einem Dutzend internationalen Organisationen nutzbringend für alle administriert hat, ist seit Russlands Überfall auf die Ukraine lahmgelegt. Die Beschränkung auf wissenschaftliche und andere Aktivitäten unter Ausklammerung der sicherheitspolitischen Dimension hat die internationale Kooperation im Polargebiet seit der Gründung des Rates 1996 möglich gemacht; jetzt, mit dem Einzug des geostrategischen Konfliktpotenzials, sind die Aktivitäten des Rates suspendiert worden, u.a. zum Schaden der Erforschung des Klimawandels. Gleichzeitig werden Russland und China die neuen Möglichkeiten gemeinsam zu ihrem geostrategischen Nutzen fast ungehindert ausbauen können. Der im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg geprägte Begriff der Zeitenwende spricht das kritischer gewordene globale Konfliktpotenzial, aber auch die bedeutsame Mobilisierung des Abwehrwillens und entsprechender militärischer Mittel seitens der USA und Europas an. Mit Bezug auf die Polarregion erfasst der Begriff der Zeitenwende jedoch auch neue Vorteile der enger gewordenen Partnerschaft der Grossmächte Russland und China, die ausdrücklich erklärt haben, dass sie, gewissermassen als Block des „Autokratismus“, die herrschende liberale Weltordnung angreifen wollen.

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